Coachingbericht zum Thema
-Neu-Orientierung-
im Rahmen einer Individual-Beratung/Coachings persönlich neu orientieren wollte.
Wechsel-Jahre!
Der Fall: Andrea war 54 Jahre alt, als sie zu mir in die Praxis kam. Eine gestandene Frau, beruflich erfolgreich und für viele Jahre eine alleinerziehende Mutter. Bereits mit Anfang 30 war sie kurz nach der Geburt ihres 2. Kindes Witwe geworden und hatte von jetzt auf gleich die alleinige Verantwortung für 2 kleine Kinder und ein kurz zuvor erworbenes Eigenheim übernehmen müssen. Da ihre Eltern, sowie auch ihre Schwiegereltern, damals weit weg in anderen Städten wohnten, hatte sie vor Ort nur wenig Hilfe und musste sich, mehr oder weniger alleine, allen neuen Herausforderungen stellen. Viele Jahre lang hatte sie das Gefühl, nur zu funktionieren, denn sie konnte zum einen den Tod ihres geliebten Mannes nicht verwinden und fühlte sich zudem mit allen Aufgaben und Verantwortlichkeiten überfordert. Aber, sie schaffte es! Sie nahm ihren Beruf als Sachbearbeiterin in einem Industrieunternehmen wieder auf, erst in Teilzeit und später, als die Kinder größer waren, wieder in Vollzeit. Durch eisernes Sparen schaffte sie es, nach und nach das Haus abzubezahlen, und auch sonst mussten ihre Kinder nichts entbehren. Ihr Alltag war streng durchorganisiert und da sie immer sehr diszipliniert, fleißig und zuverlässig war, erreichte sie mit den Jahren berufliche Erfolge und stieg zur Abteilungsleiterin auf. Dadurch verbesserte sich ihre finanzielle Situation und sie konnte ihre Kinder in allen Belangen vollumfänglich unterstützen. Beide Kinder machten das Abitur und verließen direkt danach das Haus, um in anderen Städten zu studieren.
Andrea hatte jahrelang heimlich auf diesen Moment hin gefiebert und sich immer vorgestellt, was sie alles tun würde, wenn sie denn erst wieder Zeit für sich hätte. Als auch das letzte Kind das Haus verlassen hatte, fühlte Andrea sich wie befreit. Sie musste im Alltag nur noch für sich selbst sorgen und hatte auf einmal sehr viel Zeit für sich und ihre Interessen. Aber, anstatt ihren neuen Lebensabschnitt mit eben diesen Interessen und dem Ausleben lang gehegter Wünsche zu füllen, verfiel sie in eine Art Starre, fühlte sich wie gelähmt und fiel in ein Loch.
Der Coachingverlauf: In den ersten Sitzungen erlebte ich eine zwar erschöpfte, aber durchaus selbstbewusste Frau, die ihre unterschiedlichen Stimmungen gut benennen und ihre aktuelle Situation klar beschreiben konnte. Sie wirkte aufgeräumt, erzählte strukturiert, war sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst und konnte sogar über sich selbst lachen. Eine starke Frau und ich konnte sie mir sehr gut als die Managerin vorstellen, die sie im beruflichen Leben ja auch war. Als ich ihr meinen Eindruck schilderte, freute sie sich über meine Bestätigung ihre Rolle, als Managerin für alles und jeden, betreffend, denn als genau solche fühlte sie sich und sie war stolz darauf. Als ich ihr jedoch sagte, dass ich das Gefühl hätte, dass sie zwar für alles und jeden die Managerin wäre, aber nicht für sich selbst, lachte sie mich aus. Sie zählte mir verschiedene Dinge auf, die mir "beweisen" sollten, dass sie sehr gut für sich sorgen konnte und nicht zuletzt, dass sie in meiner Praxis war, um sich Hilfe zu holen, zeugte schließlich davon.
Als ich sie fragte, was das Schlimmste für sie an ihrer neuen Situation sei, antwortete sie spontan, dass ihre Kinder ausgezogen und sie sich nicht mehr gebraucht fühlen würde. Sie fühlte sich zum einen wie amputiert und gleichzeitig verlassen. Genau genommen benutzte sie das Wort –zurückgelassen- und als ich sie fragte, was genau sie damit meinen würde, fing sie an zu weinen. Sie erzählte, dass sie seit einiger Zeit das Gefühl hätte, dass ihr Leben an ihr vorüberzog, ohne, dass sie aktiv Teil davon wäre. Ihre Kinder würden sie immer weniger brauchen und sich immer mehr von ihr abnabeln und gleichzeitig würde sie auf ihrer Arbeit erleben, dass eine neue Generation sie quasi "von links überholen" und sie sich immer nutzloser fühlen würde. Die neuen technischen Herausforderungen im Rahmen der zunehmenden Digitalisierung würden sie überfordern und gleichzeitig hätte sie das Gefühl, dass ihre jahrelange Berufs- und Lebenserfahrung nichts mehr zählen würde. Sie vermisste in ihrem Alltag immer mehr den Respekt und die Wertschätzung, die sie all die Jahre über erfahren hatte und fühlte sich zusehends wertlos. Kurzum: Sie wusste nicht mehr, wer sie war.
Eine Situation, die ich von einigen meiner Klientinnen kenne, nachdem die Kinder ausgezogen sind. Bei Andrea verstärkte sich aber dieses Gefühl des Verlassen- oder Zurückgelassenwordenseins noch einmal um ein Vielfaches, weil sie seit dem Tod ihres Mannes allein geblieben und keine neue Beziehung mehr eingegangen war. Sie hatte ihr Leben voll und ganz ihren Kindern gewidmet und sich auch beruflich immer weiter entwickelt, um ihren Kindern ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. In all den Jahren hatte sie es sich nie gestattet, sich einmal zu fragen, was sie eigentlich wollte, was ihre Bedürfnisse, Wünsche und Träume waren. Sie hatte den Kontakt zu sich selbst verloren. Als ihre Kinder ausgezogen waren, und sie somit als Mutter immer weniger, oder zumindest anders, in Anspruch nahmen, entstand bei ihr eine Lücke, die sie mit nichts zu füllen wusste, denn da war (gefühlt) nichts. Die „alte“ Andrea war in ihren Augen obsolet geworden und eine „neue“ gab es (noch) nicht. Somit hatte Andrea (gefühlt) ihre Daseinsberechtigung verloren.
Beispielhafte Coaching-Intervention: Ich schlug ihre eine Begegnung mit ihrem jüngeren Ich vor, worunter sich Andrea zuerst einmal nichts vorstellen konnte. Ich bat sie, sich an die sehr junge Andrea zu erinnern, am besten an jene, die sie war, bevor sie geheiratet und Kinder bekommen hatte. Andrea fiel diese Erinnerung sichtlich schwer, denn sie hatte schon seit ganz vielen Jahren nicht mehr an die junge Andrea, die sie einst war, gedacht. Ich ermunterte sie, die Augen zu schließen und sich das Bild dieses jungen Mädchens in Erinnerung zu rufen und mir zu beschreiben, was sie sah. Mit der Zeit entspannte sie sich und schilderte mir sehr eindrücklich das Aussehen der ca. 18 Jahre alten Andrea, die gerade die Schule abgeschlossen hatte und dabei war, sich eine Berufsausbildung auszusuchen. Eigentlich hatte sie nach dem Abitur Medizin studieren wollen, aber dafür hätte sie ihren Heimatort verlassen und in eine weit entfernte größere Stadt umziehen müssen, was weder ihre Eltern (aus Kostengründen), noch ihr damaliger Freund (und späterer Ehemann) wollten. In Ermangelung einer anderen Alternative fing sie deshalb eine Ausbildung als Bürokauffrau bei dem einzigen größeren Unternehmen in ihrer Stadt an, bei dem sie auch nach der Ausbildung, bis zur Geburt ihres ersten Kindes, blieb. Sie hatte immer viele Freunde, war sehr gesellig, spontan und unternehmenslustig und bei jeder sich bietenden Gelegenheit reiste sie zusammen mit ihrem Freund in andere Länder, um diese auf eigene Faust zu erkunden. Ich konnte beobachten, dass Andrea sehr oft lächelte, während sie mir von ihrem jüngeren Ich erzählte und bat sie deswegen, ihren inneren Film genau an der Stelle anzuhalten.
Kurze Methodenerklärung: Bei der Methode der Begenung mit dem eigenen jüngeren Ich geht es darum, wieder in Kontakt mit "alten" Anteilen des eigenen Selbst zu kommen und sich zu erinnern, wer man einmal war und welche Wünsche, Träume und Vorstellungen vom zukünftigen Leben man einst hatte, als man quasi am Anfang des Erwachsenenlebens stand. Bei vielen Menschen sind diese Anteile verschüttet, geben einem aber auch viele Jahre später noch Hinweise darauf, was mit der Zeit vielleicht verlorenen gegangen ist, obwohl es einem einmal wichtig war. Sich, ohne es zu bewerten, an seine damaligen Wünsche, Träume und Vorstellungen zu erinnern, ermöglicht somit wieder den Zugang zu all jenen persönlichen Ressourcen, derer man sich vielleicht nicht mehr bewusst ist oder, die man sehr lange nicht mehr genutzt hat.
Weiterer Coachingverlauf: Ich stellte 2 sich gegenüber stehende Stühle im Raum auf und lud Andrea dazu ein, auf einem Stuhl ihrer Wahl Platz zu nehmen. Dort sollte sie sich ihr jüngeres Ich auf dem anderen Stuhl vorstellen und zwar genau so, wie sie es mir beschrieben hatte. Dann bat ich sie, ihrem jüngeren Ich eine Frage ihrer Wahl zu stellen. Zuerst wirkte Andrea mit der Aufgabe überfordert. Sie sah mich ratlos an und schwieg. Ich frage sie deshalb, wie es ihr damit gehen würde, ihrem jüngeren Ich gegenüber zu sitzen. Sie empfand zum einen Befremden in dieser für sie ungewohnten Situation, aber auch so etwas wie eine unbestimmte Traurigkeit. Auf die Frage, worüber sie traurig sei sagte sie, dass sie merken würde, dass ihr jüngeres Ich so gar nichts mit ihrem heutigen Ich zu tun hätte; als wären es zwei komplett verschiedenen Personen. Die Frage, die sie ihrem jüngeren Ich stellte, war: "Wie findest du das, was aus mir geworden ist?" (Eine sehr mutige Frage, wie ich finde!)
Ich bat sie nun, sich auf den anderen Stuhl zu setzen und sich die heutige Andrea mit den Augen der jüngeren Andrea von damals anzusehen. Nach ein paar Minuten fing sie wieder an zu weinen. Auf die Frage, auf welchem der Stühle sie sich wohler fühlen würde antwortete sie, auf dem ersten Stuhl, denn sie würde die heutige Andrea viel besser kennen, als die jüngere und das würde ihr Sicherheit geben. Trotzdem hatte Andrea den Mut, aus Sicht der jüngeren Andrea ihre zuvor gestellte Frage zu beantworten und in weiteren Coachingsitzungen haben wir nach und nach das bearbeitet, was u. a. bei dieser ersten Übung herausgekommen ist.
In einer weiteren Übung hat die heutige Andrea sich ihr späteres Ich (im hohen Alter) vorgestellt und sich gefragt, welche heutige Version ihres Selbst zu der Person passen würde, die sie gerne einmal im Alter sein möchte. Andrea bekam dazu eine Hausaufgabe > sie sollte sich selbst, als ihr älteres Ich, einen Brief aus der Zukunft schreiben, in dem sie ihrem heutigen Ich raten sollte, wie sie mit der aktuellen Situation am besten umgehen soll.
Anmerkung: Mein grundsätzlicher Arbeitsansatz ist der, dass jeder Klient*in sein/ihr eigener Experte ist! Alle Lösungen liegen in ihm/ihr und somit auch alle Möglichkeiten, Herausforderungen anzunehmen und Probleme zu lösen. Oft fehlt den Klienten*innen allerdings der Zugang zu sich selbst und somit auch zu all seinen/ihren Ressourcen. In Krisensituationen fokussieren sich Klienten nicht selten nur noch auf ihre von ihnen erlebten Schwächen, anstatt sich auf ihre Stärken zu konzentrieren. Der Kontakt zu ihren vielen, sie stärkenden Eigenschaften, ist oft abgerissen und sie erleben sich als hilf- und machtlos. Ihr Selbstbild ist nicht selten von den Erwartungen anderer an sie eingefärbt und hat genau so oft wenig mit dem zu tun, was der Klient*in eigentlich will oder dem, wer er/sie eigentlich ist oder wirklich sein möchte.
Fazit: Andrea konnte den Kontakt zu all ihren Anteilen wieder herstellen und sich dadurch all ihrer Stärken, aber auch ihrer ganz persönlichen Wünsche und Bedürfnisse, bewusst werden. Nach und nach konnte sie auch ihre Bedürftigkeit akzeptieren, ohne sich dabei schwach und hilflos zu fühlen. Während unserer gemeinsamen Coachingsitzungen ist Andrea Schritt für Schritt zurück zu ihren Wurzeln zurückgegangen und hat sich erinnert, wer sie einmal war und welche Wünsche und Träume sie hatte. Daraus resultierend konnte sie ein Zukunftsbild für sich entwickeln, das all ihre Stärken und Interessen berücksichtigt und sich, wie sie es nannte, „neu“ erfinden.
Ein paar Monate, nachdem Andrea ihr Coaching bei mir beendet hatte, rief sie mich an, um mir mitzuteilen, dass sie ihre Arbeit gekündigt und mit einer Umschulung zur Altenpflegerin begonnen hatte. Ihr ursprüngliches Interesse an der Medizin war wieder erwacht und sie wolle zukünftig direkt mit und für Menschen arbeiten, um all ihre Kompetenzen, Interessen und Fähigkeiten umfänglich einzubringen. Ihr letzter Satz hat mich besonders gefreut: „Ich spüre mich wieder und habe wieder ein Ziel!“